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perspektive 47

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es gibt projekte im leben. die man weiterverfolgt. obwohl man sich nicht im positiven davon entfernt hat. ja – auch wir haben unsere „leichen“ im sprichwoertlichen projekte-keller. so ein projekt. das wir
nun mit gemischten. nicht immer wertfreien gefuehlen verfolgen ist perspektive – hefte fuer zeitgenoessische literatur. wir waren mitherausgeber in den jahren 1993 – 2002. dieser vorgeschaltete „cliffhanger“ sei insofern erlaubt. da der versuch einer rezension des eben erschienenen neuen heftes, nummer 47, durchaus nicht frei von diesem, unserem hintergrund erfolgen wird – auch wenn wir uns redlich bemuehen werden, eine „metaebene“ einzunehmen.

das neue heft 47 mit dem klingenden namen „blatt schuss“ ist wieder zurueckgekehrt in die „gaengige“ zeitschriftenpraxis des handlichen zweiteilers: der ueberwiegende teil des heftes wird mit „primaertexten“. die durchaus dem titel des heftes geschuldet sind (wir rechnen zu den primaertexten auch essayistische texte wie etwa den von ralf b. korte – aber diese einteilung ist sicherlich fliessend). der rest durch einen sekundaertext „kontrollverfahren klang“ gefuellt. fuer den publikationsrhythmus von perspektive kein untypisches heft: denn stark theoriegeladen heftnummern wurden stets – quasi als rekreatives moment – von „normalen“, literaturlastigen heften abgeloest.

der „literarische“ teil des heftes ist wie immer von unterschiedlicher qualitaet – geschuldet einer heterogenen redaktion. die lyrik faellt fuer unsere begriffe stets hinter prosa – und essayistische texte zurueck. der text von ulrich schlotmann „die freuen der jagd“ erinnern uns stark an seinen bereits beim bachmann-preis vorgetragenen text (handelt es sich um eine variation oder um den naemlichen?). die „seriellen“ texte von kenji siratori funktionieren wie immer – variationen sind dabei schwer auszumachen, wenngleich sie noch eine starke faszination auf uns ausueben. aehnlich wuerden wir auf den text von d. holland-moritz reagieren: „trendmarsch 2“ bewegt sich in gewohnt guter form voran.

ralf b. korte arbeite sich nach wie vor an d‘ annunzio und fiume ab. sein essayistischer text „futur 4. fiumaner flugschriften“ ist gerade an den stellen am interessantesten. wo historische und aktuelle theoriestraenge uebereinandergezogen werden wie „layer“-apparate. ob fiume damals eine autonome zone im sinne von hakim bey war oder eine „party zone“ von kriegsheimkehrern. sind so fragestellungen. denen wir uns nur zu gerne aussetzen.

der wichtigste grund. perspektive zu lesen. ist jedoch. sich auf die aktuelle version des gruppeeigenen kontrollverfahrens „klang“ einzulassen. kontrollverfahren ist im grunde ein sehr einfaches verfahren. positionierungen und debatten innerhalb einer gruppe auszutragen und gleichzeitig an einem text zu arbeiten. der genau diese debatten dann verschraenkt.

seit 1997 in verschiedenen stadien des gruppenprozesses aufgenommen hat kontrollverfahren immer interessante ergebnisse hervorgebracht. die „rauhheit“ und „ambivalenz“, aber auch „dreckigkeit“ – weil die integration eines „spontanen, reflexsiven und reflektierten“ bruchs in den text immer auch „unreinheit“ bedeutet – des diskursiven verfahrens ans licht bringen.
freilich war es auch der jeweiligen konstellation und der inhaltlichen hauptgewichtung geschuldet, wie stark die argumente gegeneinander liefen, wo und wann der bruch aus dem gemeinsamen text zu erwarten war.

so war die durchaus gewollte. „harte“ gangart in den gegenseitigen argumentativen straengen nicht immer leicht zu parieren, wurden die sprachlichen duelle nicht immer so ausgetragen, dass man danach noch gut zusammen tortenwerfen veranstalten konnte. aber immer gab es ein ergebnis: ein weiteres kontrollverfahren.

im aktuellen kontrollverfahren „klang“ ist erstmalig ein anhaltendes duell nachzulesen. das sich zwischen der alten perspektive fraktion (helmut schranz, ralf b. korte und robert steinle) und dem neuen redaktionsmitglied florian neuner entfacht. obwohl florian neuner im editorial perspektive jenseits der „reinen poet(olog)ischen selbstbespiegelung“ an- und auf einen notwendigen „verschmutzungsgrad“ von theorie und text setzt. wird perspektive im kontrollverfahren genau in diese schere gedraengt: zwischen die notwendige „verschmutzung“ auf der einen seite (schranz, korte, steinle) und der poetologischen „reinheit“ (neuner). schnell entwickelt sich der diskurs ueber einen moeglichen zusammenhang zwischen literatur und klang zu einer „diskussion ueber kulturindustrie“ (neuner).

der disput entzuendet sich am klassischen gegensatz zwischen E und U, zwischen benjamin und adorno gewissermassen: war benjamin mit seinem aufsatz „das kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit“ durchaus auf adornos kulturindustriellen spuren. als er das potential des films als neues medium auslotet und dem verfall des auratischen kunstwerks die malerei und in teilen die photographie zuordnet. weicht er in seiner suche nach dem „revolutionaeren“ der filmischen apparatur deutlich von adorno ab – „autos, bomben und film“ schlagen nicht immer zurueck. adorno hat daher auch die veroeffentlichung von benjamins ministudie hinausgezoegert und nur stark redigiert veroeffentlicht. obwohl er wusste. dass benjamin keine moeglichkeit mehr hatte. seinen text an andere stelle zu platzieren.

genau deshalb ist es heute wichtig. diesen konflikt zwischen benjamin und adorno als aktuell wieder aufzugreifen und beide parallel mit der je anderen ausrichtung zu lesen. wenn robert steinle im kontrollverfahren anmerkt. dass der text die musik mache. dann enthaelt diese aussage genau diesen widerspruch: die reproduktion und die produktion.
vor dem eigenen text zu „verbloeden“ – um florian neuner zu paraphrasieren -. mag keine wirkliche alternative sein. ist aber auch im re-/produktionsschema enthalten. sich der reproduktion auszusetzen bedeutet – wie bei benjamin -. sich der „zerstreuung“ (auch so ein schoener begriff der jahrhundertwende) nicht nur im hinblick auf die chock-wirkung auszusetzen. sondern ihr in den nachbildern (adorno) der maschine habhaft zu werden – sie als ein uebungsinstrument zu ver/nutzen.

der umgekehrte kanon (den neuner aufzustellen versucht in abgrenzung zur „verbloedung“ in der kulturindustrie) kann daher nur zu einer verlaengerung der geschmacksfragen im spaetkapitalismus (heute: neoliberalismus) werden.

ob die methode von perspektive als „white hacking“ (helmut schranz) bezeichnet werden sollte. bleibt abzuwarten. gemeinhin ist der „white hacker“ ein hochbezahlter hacker. der die produkte von unternehmen auf ihre knackbarkeit testet – also ein hacker mit „gewissen“.

sowohl die benjaminsche als auch die methode von perspektive. die „verbloedung“ von text- und textverfahren immer wieder neu zu justieren – auch an/um der/die grenze zur „verschmutzung“. ist jedoch nicht. wie florian neuner provokant nonchalant formuliert. laengst gaengig im literaturbetrieblichen lounging verfahren. die kritik der institution – des dispositivs – oder der strategien der umstellung (bourdieu) greifen eben nur da wirklich. wo das spiel nicht mehr mitgespielt wird: selbst der wandel zwecks bewahrung – wie bourdieu so schoen auffiltert – gehoert zum spiel um die macht im feld. daher gehoert auch die integration der kritik von institutionen zum notwendigen wandel im feld.

es laesst sich vielleicht hier ein beispiel von bourdieu auf den literaturbetrieb anwenden. aehnlich wie im 16. jahrhundert als innerhalb des adels durch den verkauf von adelstiteln eine inflation und entwertung von titeln stattfand. kann man fuer den literaturbetrieb heute genau diesen zustand festmachen. nachdem der titel „autor“ oder „dichter“ sich entwertet hat: „aus alledem folgt. dass alle den wettlauf bestreitenden gruppen. gleichviel an welcher stelle sie liegen. ihre position. seltenheit und ihren rang nur unter der voraussetzung behaupten koennen. dass sie weiterrennen. um auf diese weise zum einen den abstand gegenueber denjenigen aufrechtzuerhalten. die ihnen dicht auf den fersen sind. zum anderen aber auch den direkt vor ihnen laufenden und damit deren differenz gefaehrlich werden zu koennen; oder. unter einem anderen blickwinkel. nur der bedingung. dass sie nach dem streben. was die vor ihnen liegenden gruppen im betreffenden moment besitzen und was sie selbst einmal ihr eigen nennen werden – nur eben zu einem spaeteren zeitpunkt.[1″>

wir hoffen. das perspektive nicht wie alice im wunderland dem weissen kaninchen nachlaeuft. nur um der hoffnung willen – wie im editorial die gruppenmitglieder schlicht als „dichter“ bezeichnet werden -. damit dichter dran zu sein. wir wissen naemlich. wenn man dem text weiter folgt und der chesire-katze zuhoert: dass alle in diesem text so verrueckt sind wie strohsterne.

perspektive kann man lesen. kaufen und abonnieren. wer es gar nicht erwarten kann. kann auch bei uns anfragen. wir leiten die wuensche an die redaktion gerne weiter. alle texte des neuen heftes werden auf der webseite http://www.perspektive.at veroeffentlicht werden.


[1″> bourdieu, pierre: die feinen unterschiede. suhrkamp 1988, s 267

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