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der fernsehkritiker tritt an die stelle des autors

wenn sich ein literaturkritiker mal zeit und zeilen nimmt. dann wirds meisthin auch interessant. helmut boettiger hat sich zeit genommen und einen versuch gemacht. den literaturbetrieb als verpackungsindustrie zu analysieren: „die verpackungs-industrie. wenn ein schriftsteller heute erfolg haben will, muss er mit den medien spielen. es ist ein spiel mit dem feuer.“ (tagesspiegel, 14.09.2003)

vorab sei gesagt – ohne gleich schubladen aufzumachen – der text haelt was er verspricht. er zieht das ganze register. leert alle moeglichen schubladen aus. laesst dabei aber leider einiges locker liegen und wie immer bei scharfen ritten. geht er mitunter mit einer zu flapsigen geste zuwenig ins diskursive detail. was boettiger anderen vorwirft – die trendige verwendung von begriffen. holt ihn selbst ein.

gleich zu beginn des artikel stutzt man: boettiger setzt an die stelle des autors den fernsehkritiker als wichtigste instanz fuer die vermittlung von buch und literatur. fuehrt aber im naechsten satz als beispiel benjamin von stuckrad-barre an. als „aufhebung des autors durch starkult und pop“ und schliesst dann mit der mcluhan formel „das medium ist die botschaft„.

? die erste folgerung schliesst nicht selbsttaetig von fernsehkritiker auf autor + starkult
? die mittlerweile – meisthin nicht wirklich nachgeschlagene – verwendung von mcluhan wirkt wie eine pattstellung

danach folgt eine folgerichtige darstellung der literaturpraesentation als event, party, dj-irgendwie. boettiger spricht vom subtext der literatur, einem „text mit anderen raendern“ – wir wuerden es mit genette schlicht paratext nennen.

? eine laxe zuspitzung findet sich in der verwendung des begriffs „avantgarde“: protagonisten von literaturevents sind fuer boettiger gleich zu setzen mit „avantgardisten“. fuer die text und auftritt deckungsgleich seien.

in der eventkultur von literatur sei diese „wieder auf der hoehe der rezeption“ angelangt. also dort wo literatur oder jedes medium angefangen hat: in den cabarets, rummelplaetzen und in den einschlaegigen medien. (insofern waere historisch gesehen das medium literatur nun in den anfaengen des mediums films angekommen – aber auch avantgarde-bewegungen haben ja immer die verbindung von kunst/literatur und leben eingefordert; etwa die verbindung von kabarett und dada – wobei die verbindung in diesem fall das bewusste verlassen des „offiziellen“ literatur- und kunstbetriebs darstellt; in einer abgespeckten version gilt das sicherlich auch fuer die anfaenge der popliteratur in deutschland.).

boettiger war ja einer der ersten kritiker von judith hermanns oeffentlicher vermarktung und – darstellung (das bedienen der aura von melancholie und verletzbarer saturiertheit). die interpretation des pelzkragens auf fotos von hermann als etwas „russisches“ in berlin halten wir jedoch fuer ueberzogen. wenn ueberhaupt hat der kragen etwas konservativ-mondaenes. und wenn ein grossteil ihrer weiblichen leserschaft dann auch alle pelzkragen tragen. ist das der altbekannte werther-effekt. der sich heute aber nur mehr anzieht.

boettiger scheint unter „avantgarde“ nur deren trendigen abglanz zu verstehen: so sei „tempo“ eine avantgarde gewesen, deren autoren sich durch kokettheit und dandy-gestus ausstellten. da ist ihm zuzustimmen. jedoch zeigt das nur. dass heute lediglich die „oberflaeche“ von avantgarde-praktiken kopiert werden bzw. deren kompatible reste (wir erinnen hier nur an die allgemein leicht herstellbare praktik des „flash mob“ im gegensatz zu der eigentlichen ausgangsidee einer TAZ-zone von hakim bey – irgendwie und irgendwo soll und darf es eben heute nicht mehr „weh tun“).

interessant ist jedoch boettigers stufenmodell der allmaehlichen abloesung oder trennung von autor und kritiker:
in der ersten stufe der gruppe 47 seien autor und kritiker noch kaum unterscheidbare gruppen. im klagenfurter bachmann-wettbewerb setzt sich die spaltung von autor hier und kritiker da fort. und im „literarischen quartett“ ist der autor schlicht nicht mehr praesent. der kritiker aber desto umfassender: „es gab keine autoren mehr, sondern nur noch kritiker.“

somit habe der fernsehkritiker den autor ersetzt (q.e.d.)

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4 Antworten auf “der fernsehkritiker tritt an die stelle des autors”

  1. liebe frau serner – sie beginnen sich selbst zu übertreffen 🙂
    kaum hat frau hier einen hochinteressanten text gelesen und versucht über den ersten vorlauten gedanken („mit einer solchen argumentationskette könnte man sicher auch beweisen, dass der osterhase jetzt die funktion des weihnachtsmannes übernommen hat…“) verstehend hinwegzukommen, haben sie schon wieder, in rasantem tempo und nie nachlassender qualität, diverse andere themen zur sprache gebracht 🙂
    und auch wenn das jetzt von einer dilettantin wie mir nicht so schwer wiegen sollte:
    wissen sie eigentlich WIE gut sie sind?:-)

  2. pepe –
    im grunde hat der osterhase oekonomisch gesehen keine andere funktion als der weihnachtsmann. 😉

    soviel zu argumentationsketten. die sich in den schwanz beissen.

    was die qualitaet anbetrifft. schwankt sie zuweilen. frueher waren wir noch verspielter und dichter. fuer lange. dichte beitraege bleibt zu wenig energie nach den lohnarbeitstagen. aber wir bemuehen uns trotzdem…

    die schwierigkeit liegt fuer uns auch immer darin. die funktion unseres weblogs immer wieder neu zu definieren. naemlich als ein platz. wo unsere interessen walten sollten. wir nutzen den weblog. um fragen und analysen weiter zu treiben. insofern die zeit es zulaesst.

    nur manchmal kippt das unterfangen. wenn die linie ausschwenkt in richtung „die wollen wieder was lesen, wir muessen den leserinnen was bieten etc. pp“. das ist fuer uns ein staendiger kampf.

    freilich schaffen wir es kaum in den intervallen mehr als entwuerfe zu praesentieren. mehr ist leider nicht drin. „fertigere“ teile sind dann immer mal wieder in „projects“ zu finden. texte und projekte. die so in random items nur in ansaetzen auftauchen.

    und ob wir gut sind. wissen wir nicht. da haben sie recht. 🙂

  3. „für lange dichte beiträge bleibt zu wenig energie nach den lohnarbeitstagen“ ???

    ehrlich gesagt finde ich die energie, die sie auch nach ihrer lohnarbeit noch aufzubringen imstande sind, geradezu gigantisch!!:-)

    und sie wissen nicht, OB sie gut sind??

    na jetzt machen se aba mal´n punkt! 😉

    sie sind phantastisch!!

    nicht nur wegen der energie, die sie aufbringen und auch nicht nur wegen der hohen qualität, die sie hier ins netz stellen.
    es kommt eine deutlich fühlbare persönliche präsenz hinzu, die ohne jegliche narzisstischen färbung daherkommt
    und die ist es, die ihre hochintellektuellen, präzisen und dichten seiten hier zum leuchten bringt 🙂

    so 🙂
    das musste ich jetzt einfach mal loswerden…

  4. PUNKT. 🙂

    derzeit arbeiten wir leider bis mitte januar an einem „literarischen“ text (wie banal, nicht wahr!) und koennen nur ab und an reinlugen hier nach ri.

    aber wir sind da. sind da. (wenn man mit achternbusch mal ins ungefaehre kalauern will).

    wir denken. wir nehmen immer die zu grossen messlatten ins handegepaeck.

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